„Viele erkennen nicht, wie gut sie es haben“

Karriereberaterin Madeleine Leitner über Arbeitnehmer zwischen Sinnsuche und Dauerfrust

Frau Leitner, angenommen, ich gehe seit drei Jahren ungern zur Arbeit. Was raten Sie mir?

Als gelernte Verhaltenstherapeutin frage ich nach: Kam das schleichend oder plötzlich? Gibt es einen neuen Chef, neue Kollegen? Wie sieht es privat aus, gab es Belastungen, hat der Job mehr Bedeutung? Hat sich inhaltlich etwas verändert? Es geht also um eine Art Anamnese.

Also darum, das Problem einzugrenzen?

Ja. Ist es wirklich ein Thema, oder jammern gerade alle im Bekanntenkreis? Oder in Karriereratgebern steht: Wechseln Sie spätestens nach vier Jahren. Mich verunsichert das. Aber will ich das wirklich? Eine Situationsanalyse hilft herauszufinden, worum es tatsächlich geht.

Die um die Vierzigjährigen scheinen besonders anfällig für berufliche Sinnfragen.

Das erlebe ich immer wieder in meiner Praxis und rate zur Vorsicht. Oft ist das eine Gemengelage. Da sollte man sehr genau hinschauen. Zum Beispiel gibt es Frauen, die wollten Familie und haben ihre Arbeit nur ausgehalten. Aber eine Familie hat sich nicht ergeben, und plötzlich hat der Beruf eine höhere Bedeutung.

Auslöser sind meist runde Geburtstage.

Das berührt viele, aber man muss sich nicht jeden Schuh anziehen. Diese Sprüche, „Mit 30 ist der Lack ab“, setzen einen unnötig unter Druck. Zu denken, später habe ich die Wahl nicht mehr, ist falsch. Solche Daten werden bedeutungsloser. Ich kenne Leute, die mit 50, mit 60 Jahren Jobangebote bekommen. Sämtliche Lebensmodelle ändern sich. Das Arbeitsleben ist nicht mehr berechenbar. Die Vorstellungen über Altersphasen haben sich verändert.

Grundsätzlich warnen Sie aber vor beruflichen Schnellschüssen.

Das tue ich aus gutem Grund. Wir wissen aus der Psychologie, egal auf welchem Level, alles, was Verschlechterung ist, wird wahrgenommen und negativ bewertet. Das betrifft den Multimillionär wie den armen Schlucker. Wenn ich einen neuen Chef habe, der mehr Arbeit fordert, aber nicht mehr Geld gibt, fällt mir das nachhaltig auf.

Das kritisch zu sehen ist doch richtig.

Es kommt auf die Relation an. Ich denke da an einen Klienten in der Autoindustrie. Seine erheblichen Privilegien wurden leicht gekappt, das hat ihn ungemein aufgeregt. Was ihn stört, sind Marginalien, etwa, die anderen haben noch ein schöneres Zimmer. Erst im Kontrast sehen solche Menschen, was es alles im Arbeitsleben gibt und dass diese Vorteile alles andere als selbstverständlich sind.

Solche Kontraste muss jemand, der unzufrieden ist, aber erkennen.

Das ist nicht einfach. Manchmal bringe ich Klienten zusammen. Im Austausch mit anderen wird einigen klar, wie gut sie es haben. Viele erkennen das nicht.

Also Mut zur kritischen Selbstreflexion?

Unbedingt. Die nützt gerade diesen Früher-war-alles-besser-Menschen. Die sind – um das drastisch zu benennen – jahrelang irrsinnig verwöhnt worden. Das ist vergleichbar mit guten Partnerschaften, wo um Kleinigkeiten wie die berühmte Zahnpastatube gestritten wird. Da sollte man die Dinge ins Verhältnis setzen.

Dabei soll Arbeit uns glücklich machen.

Im Moment dominiert der Anspruch, die Arbeit muss Erfüllung bringen. Ich muss aber nicht jeden Tag vor Begeisterung an die Tür klopfen. Solche Bücher verkaufen sich gut und erzeugen viel Druck. Dabei ist ganz okay in Ordnung.

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Und wenn die Unzufriedenheit bleibt?

Dann muss es nicht immer die große Lösung sein. Es ist eine Überlegung wert, ob der Wechsel in eine andere Abteilung, eine Zweigstelle nicht schon eine wohltuende Veränderung bringt. Oft reicht es, sich neue Freiräume zu verschaffen. Statt zu kündigen, ein Sabbatical anzustreben. Vieles relativiert sich nach der Auszeit.

Und falls nicht?

Ab und zu erlebe ich absolut unglückliche Menschen, die im falschen Beruf stecken. So wie eine künstlerisch begabte Frau, die klinische Studien macht. Vielleicht gelingt es ihnen, ihre Arbeit als Einkommensquelle zu sehen mit einem nicht geringen Schmerzensgeld und sich außerhalb des Berufs zu verwirklichen.

Die Fragen stellte Ursula Kals.

 

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