ETH Zürich: Charmanter Streber

Die ETH ist sogar den amerikanischen und britischen Eliteunis auf den Fersen. Zürichs Hochschullandschaft blüht. Die Stadt steht ohnehin für höchstes Niveau – auch abseits des Campus.

Zürich könnte ein reizendes Städtchen sein. Mit seiner Lage am unteren Ende eines lieblichen Sees, der auf beiden Seiten von gelassenen Hügeln umarmt wird – dessen hügelige Ufer aber nicht von Fabriken, sondern von Villen verschandelt sind. So ließ der Schweizer Schriftsteller Max Frisch die Romanfigur Stiller über seine Heimatstadt sinnieren. Trotzdem war sein Held von Zürich entzückt. „Es ist provinziell, ohne langweilig zu sein.“

Mehr als 60 Jahre sind seither vergangen, doch am Bild der Stadt hat sich nicht viel verändert. Puppenhausartig wirkt ihr Kern, fast schon pittoresk. Aus dem schmalen Zürichsee speist sich ein kleiner Fluss, die Limmat, die vorbei an alten Häusern mit bunten Fensterläden durch die Altstadt fließt, dann von Wohngebiet zu Wohngebiet und schließlich, nach nur wenigen Kilometern, aus der Stadt hinaus ins Grüne. Das türkisblaue Wasser lädt zum Schwimmen ein, die Ufer zum Verweilen. Wer vom Seeufer oder einem der vielen Hänge der Stadt aus Richtung Süden schaut, kann im Hintergrund die schneebedeckten Gipfel der Alpen sehen. Man könnte fast meinen: Wer in Zürich lebt, der lebt auf einer Postkarte.

In vielen Belangen ist Zürich ein Gegenentwurf zu allem, was einen jungen Menschen an einem Studium im Ausland reizt. Die Stadt hat weder die vibrierende Kreativität Londons noch die Entspanntheit Barcelonas. Sie ist nicht so cool wie Kopenhagen, nicht so elegant wie Paris, nicht so abenteuerlich wie Moskau, nicht so exotisch wie Schanghai oder Singapur. Das Nachtleben ist nicht sonderlich berühmt, das Wetter nicht übermäßig gut. Und doch ist Zürich für ausländische Studierende ein regelrechter Magnet. Jahr für Jahr zieht er Tausende von Studenten in die kleine große Stadt an der Limmat, die meisten kommen aus Deutschland.

Es gibt einige Gründe, die für Zürich sprechen: die Nähe zu den Alpen, der hohe Freizeitwert der umliegenden Natur, die Sauberkeit, die Gemächlichkeit, die Idylle. Doch der bestechendste Grund ist das Renommee ihrer Universitäten. Die Eidgenössische Hochschule Zürich, besser bekannt unter ihrem Kurznamen ETH, gehört zu den besten Universitäten der Welt. Im angesehenen „World University Ranking“, das die britische „Times“ erst vergangene Woche wieder veröffentlichte, liegt die ETH auf Rang 9 – und damit vor einer Reihe amerikanischer Eliteuniversitäten wie Berkeley oder Yale. Zum Vergleich: Als beste deutsche Universität landet die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München abgeschlagen auf dem 30. Platz.

Die ETH ist natürlich nicht die einzige Universität der Stadt. Mehr als 65 000 Studenten sind insgesamt in Zürich eingeschrieben, an der ETH, der Universität (UZH), der Pädagogischen Hochschule (PH), der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), der Hochschule der Künste (ZHdK) oder der Hochschule für Wirtschaft (HWZ). Im Schatten des mondänen Zürichbergs liegen die beiden größten Hochschulen der Stadt, die ETH und die Universität (UZH). Tür an Tür in der Rämistrasse stehend, prägen ihre imposanten Kuppeln das Bild des gesamten Quartiers. Während sich die Studenten an der ETH vor allem in den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern ausbilden lassen, in Informatik und Architektur, deckt die Universität das Fächerspektrum in seiner gesamten Breite ab, von Medizin und Jura über die geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen bis hin zu Mathematik, Biologie oder Physik. Vor allem die volkswirtschaftliche Fakultät genießt im deutschsprachigen Raum einen exzellenten Ruf.

Die beliebteste Hochschule unter ausländischen Studenten ist dennoch die ETH: Fast jeder Dritte hat keinen Schweizer Pass, jeder zehnte Student kommt aus Deutschland – so auch Grischa Klimpki. Der 27 Jahre alte Hamburger ist seit fast genau zwei Jahren in Zürich. In Heidelberg hat er Physik studiert, erst im Bachelor, dann im Master. Eine Promotion im Fachgebiet Medizinische Physik stand für ihn fest. Nach Zürich wollte er aus einem Grund: „Die Methoden, die hier entwickelt werden, werden von der ganzen Welt übernommen.“ Es war reiner Zufall, dass am renommierten Paul Scherrer Institut, einem Institut der ETH, zum richtigen Zeitpunkt eine Stelle ausgeschrieben war. Er bewarb sich, wurde genommen und zog nur einen Monat später in die Schweiz.

Grischa Klimpki fühlt sich wohl in Zürich. Neben der herausragenden Forschung, an der er jeden Tag mitwirkt, begeistert ihn vor allem die Nähe zur Natur. Keine fünf Minuten brauche er von seiner Haustür zum Seeufer, erzählt Klimpki, genauso lang sei es auch zum Fuß der höchsten Erhebung der Stadt, dem Uetliberg. Vor der Arbeit eine Runde im Wald joggen, nach der Arbeit schwimmen gehen – in Zürich ist das Realität. Am Wochenende fährt der Student regelmäßig in die nahe gelegenen Berge – im Winter zum Skifahren, im Sommer zum Wandern. So lebenswert, sagt Klimpki, sei Heidelberg nicht gewesen.

Das Leben in Zürich kann sich der Doktorand gut leisten. Denn wie fast alle an der ETH wird der gebürtige Hamburger für sein Promotionsstudium gut bezahlt. Vor allem im Vergleich zu deutschen Universitäten ist der Lohn an den Zürcher Hochschulen beträchtlich. Das Einstiegsgehalt bei einer 60-Prozent-Stelle liegt bei gut 3000 Franken im Monat, jedes Jahr kommen einige hundert Franken hinzu. Andere Studenten haben schon große Probleme, über die Runden zu kommen. Denn das Leben in Zürich ist extrem teuer. An den Studiengebühren liegt das nicht. Nur 580 Franken im Semester kostet die Ausbildung an „Schulgeld“ – verglichen mit den Ausbildungskosten an ähnlich angesehenen Hochschulen in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien ist das sehr gering.

Doch selbst im Vergleich zu London oder New York sind die Lebenshaltungskosten in Zürich hoch. Regelmäßig landet die Stadt in den Listen der teuersten Städte der Welt auf den vordersten Rängen. Die Abteilung Studienfinanzierung schätzt die Kosten für Studium und Leben auf mindestens 2000 Schweizer Franken im Monat. Das sind mehr als 1800 Euro. Und das liegt nicht nur an den hohen Mieten. Kein Einkauf im Supermarkt kostet unter 20 Franken, für ein großes Bier ist man selbst in der Studentenkneipe schnell bei 8 Franken. Eine Weile habe er schon gebraucht, bis er sich an das hohe Preisniveau in Zürich gewöhnt hatte, berichtet Grischa Klimpki – und das, obwohl er von Anfang an genug Geld verdiente. „Man darf nicht den Fehler machen und umrechnen.“ Denn der ständige Vergleich würde viel kaputtmachen.

Auch an die helvetische Distanziertheit müsse man sich erst einmal gewöhnen. Wie viele andere Deutsche, die neu nach Zürich kommen, berichtet er von anfänglichen Schwierigkeiten, sich mit den Einheimischen in der Stadt richtig anzufreunden. Er habe Glück gehabt mit seinem internationalen Team am Institut. Dort habe er schnell Anschluss gefunden. Doch Grischa Klimpki erzählt auch, dass ihm die Integration trotz anfänglicher Hürden auch leichter als anderen Kollegen aus dem Ausland gefallen sei. Er begründet das vor allem mit der Tatsache, dass er in Zürich keine richtige Sprachbarriere überwinden musste, sondern täglich seine Muttersprache spricht. Zwar habe es ein paar Wochen gedauert, sich an die Schweizer Mundart zu gewöhnen, die sich deutlich von deutschen Dialekten – und vor allem vom Hochdeutschen – unterscheidet. Andererseits würde niemand verlangen, dass er als Deutscher Mundart spricht. Denn Hochdeutsch – oder Schriftdeutsch, wie die leicht abgeänderte Schweizer Variante heißt – ist die offizielle Sprache des Landes. Und so vergesse man in Zürich auch schnell mal, dass man eigentlich im Ausland ist.

Wie eigen die Schweiz dann doch ist, zeigt sich nicht nur in ihrer Sprache, sondern auch in ihren Bräuchen und ihrer Kultur. Was im Alltag in der internationalen Großstadt nicht weiter auffällt, wird an manchen Tagen besonders deutlich. Nach und nach erfährt ein Hinzugezogener etwa von Sportarten, die in Deutschland nur die wenigsten kennen: zum Beispiel vom Hornussen, am ehesten vergleichbar mit Baseball oder Kricket, das vor allem im Schweizer Mittelland gespielt wird. Oder vom Schwingen, einer Version des Ringens, das in der gesamten deutschsprachigen Schweiz verbreitet ist und das alle drei Jahre auf dem „Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest“ einen Schwingerkönig hervorbringt.

Besonders deutlich wird die Eigentümlichkeit Zürichs allerdings am stadteigenen Feiertag „Sechseläuten“. An einem Montag im April versammelt sich Jung und Alt auf dem Sechseläutenplatz am Zürichsee, um den Frühlingsbeginn zu zelebrieren. Dabei sieht das Publikum zu, wie eine Horde von Männern auf Pferden in traditioneller Kluft um einen überlebensgroßen Schneemann aus Pappmaché reitet. Wenn der „Böögg“ – so der Name der zentralen Figur – zum Höhepunkt schließlich angezündet wird, läuft eine Stoppuhr, bis er explodiert. Das ganze Spektakel hat sogar einen Erkenntniswert: Je schneller der Schneemann den mit Knallkörpern gefüllten Kopf verliert, desto schöner wird der Sommer.

 

Pralles Leben

Ob Joggen in den Wäldern des Uetliberges, Kaffee trinken auf dem Idaplatz oder Picknicken am Ufer des Zürichsees – das Leben der Zürcher findet draußen statt. Ein beliebtes Spiel ist Boule. Wann immer die Sonne scheint, rollen die Silberkugeln über den feinen Schotter auf der Josefswiese oder am Helvetiaplatz.

Für Wasserratten gibt es zwei Pflichttermine im Jahr. Beim Limmatschwimmen im August treiben Jung und Alt auf Gummikissen durch die ansonsten zum Baden gesperrte Innenstadt. Die 4500 Startberechtigungen sind begehrt: In diesem Jahr waren sie innerhalb von acht Minuten ausverkauft. Die Seeüberquerung im Juli ist hingegen nur etwas für geübte Schwimmer: 1,5 Kilometer legen die Teilnehmer vom Mythenquai bis zum Strandbad Tiefenbrunnen zurück.

Das Kulturangebot der Stadt hingegen ist nichts für den schmalen Geldbeutel. Ein Tipp: Studenten erhalten im Schauspiel Zürich eine Stunde vor Vorstellungsbeginn Restkarten in allen Preiskategorien für nur 18 Franken. Das Zürcher Kunsthaus mit Werken der Schweizer Künstler Alberto Giacometti und Ferdinand Hodler ist am Mittwoch für alle Besucher frei.

Von Maja Brankovic

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