Die Globalisierung wird von den Menschen überschätzt

Eine umfassende Datenauswertung der Deutschen Post bringt es an den Tag: Die Auswirkungen der Globalisierung werden allzu gerne falsch eingeschätzt. Und vor allem Europa hat sehr viel zu verlieren.

FRANKFURT, 14. November 2016

Die Globalisierung treibt Hunderttausende Menschen auf die Straße, wenn es darum geht, gegen Freihandelsabkommen wie TTIP oder Ceta zu demonstrieren. Sie bringt politische Entscheidungsprozesse in der EU an den Rand des Zusammenbruchs. Und sie ist zum Teil für den Wahlsieg von Donald Trump in den Vereinigten Staaten mitverantwortlich. Die Globalisierung ist so umstritten wie unaufhaltsam: Aber sie ist längst nicht so stark ausgeprägt, wie die Menschen glauben. Und die internationale Vernetzung der Handelsströme hat erst im Laufe des Jahres 2014 wieder das Niveau erreicht, das sie vor dem Ausbruch der weltumspannenden Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2007 hatte.

Hinzu kommt: Schon im vergangenen Jahr hat sich die Expansion wieder verlangsamt, allerdings nur, wenn man ausschließlich den Handel betrachtet. Kapital, Personen und Informationen hingegen bewegen sich immer freier rund um die Welt. Das sind die wichtigsten Ergebnisse des umfassenden „DHL Global Connectedness“-Index, den die Deutsche Post DHL in dieser Woche vorstellt. Die Ergebnisse liegen dieser Zeitung vorab vor – und die Lektüre fördert Erstaunliches zutage. So mögen zwar viele Dienstleistungen zum Beispiel in der Informationstechnologie inzwischen nach Indien verlagert worden sein. Die Geschäfte dort werden aber nach wie vor zum allergrößten Teil in Englisch abgewickelt, was zeigt, dass die Welt noch lange nicht so sehr das „globale Dorf“ ist, in dem viele Menschen längst zu wohnen glauben. Denn die Sprache ist noch immer ein großer limitierender Faktor für die weitere Globalisierung.

Das, was unter dem Begriff Globalisierung von Befürwortern und Gegnern gleichermaßen vereinfachend verstanden wird, ist in der Wirklichkeit des Alltags also ein sehr vielschichtiges Phänomen. Das tatsächliche Ausmaß der globalen Vernetzung ist immer noch viel kleiner, als die meisten Menschen glauben, was nach Ansicht der Autoren des Index zumindest eine Chance zur Korrektur von Missverständnissen und Ängsten geben könnte. Das Bedrohungspotential sei also viel geringer, als es die lautstarken und gut organisierten Globalisierungsgegner suggerieren. Der größte Austausch von Waren, Kapital, Personen und Informationen findet noch immer zwischen einzelnen, benachbarten Regionen statt: In die weite Ferne schweift die Globalisierung längst nicht so häufig wie gedacht.

Das ist auch der Grund dafür, dass Europa nach wie vor die am stärksten vernetzte Region auf der Welt ist: Acht der zehn am stärksten vernetzten Länder der Erde finden sich hier – was nach Ansicht der Studien-Autoren daran erinnert, was auf dem Spiel steht, wenn der politische Zusammenhalt in Europa zerfällt. Europas Vorsprung spiegele sowohl seine strukturellen Merkmale (viele wohlhabende Länder in nächster Nähe) als auch die Strategien zur Förderung der Integration durch die Europäische Union (EU) und ihre Vorgänger wider. Mehr als 70 Prozent der internationalen Handels-, Kapital-, Informations- und Personenflüsse des durchschnittlichen europäischen Landes finden innerhalb Europas selbst statt. Europa hat viel erreicht – und sehr viel zu verlieren.

 

Der DHL-Index zur Global Connectedness verfolgt die Entwicklung von Handels-, Kapital- und Informationsströmen sowie die Bewegungen von Menschen in den Jahren zwischen 2005 und 2015 oder dem jeweils letzten verfügbaren Jahr in 140 Ländern, die 99 Prozent der Wirtschaftsleistung der Welt und 95 Prozent der Bevölkerung umfassen. Er basiert nach den Angaben der Autoren vollständig auf „harten Daten“, also echten Zahlen, nicht auf Einschätzungen, was die Objektivität der Debatte verbessern soll, in der nach Ansicht der Deutschen Post DHL sowohl die Befürworter als auch die Gegner das Phänomen als solches und seine Auswirkungen überzeichnen.

Der DHL Global Connectedness Index sei der einzige Globalisierungsindex, der sowohl die Tiefe als auch die Breite der internationalen Aktivitäten der Länder erfasse. Die „Tiefe“ vergleiche die internationalen Handelsströme der Länder mit den Größen ihrer heimischen Volkswirtschaften. Und die tief verbundenen Volkswirtschaften sind in der Reihenfolge Singapur, Hongkong, Luxemburg, Irland und Belgien. In der „Breite“ wiederum wird untersucht, inwieweit die jeweiligen internationalen Waren-, Kapital, Informations- und Menschenströme aus einem Land auf der ganzen Welt verteilt sind. Die führenden Länder in der Breite sind: Großbritannien, die Vereinigten Staaten, die Niederlande, Südkorea und Japan. Insgesamt aber sind die Niederlande das führende Land der internationalen Verbindungen; Singapur übertrifft die Niederlande nur in der Tiefe der Globalisierung und das Vereinigte Königreich in Bezug auf die Breite. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse der Länderebene wurden die zehn am stärksten vernetzten Länder 2015 (in absteigender Reihenfolge) ermittelt: Niederlande, Singapur, Irland, Schweiz, Luxemburg, Belgien, Vereinigtes Königreich, Deutschland, Dänemark und die Vereinigten Arabischen Emirate.

Schwellenländer wiederum betreiben Handel inzwischen zwar genauso intensiv wie weit entwickelte Volkswirtschaften. Diese aber sind um ein Vielfaches tiefer in die Weltwirtschaft integriert, wenn man auf internationalen Kapital-, Menschen- und Informationsflüsse schaut. Die parallelen Entwicklungen von Globalisierung und Verstädterung haben zudem zu einem steigenden Interesse an „globalen“ Städten geführt. Dabei führt Singapur nach den Messungen der Deutschen Post DHL die Globalisierungsindizes auf der ganzen Welt an. Die Stadt ist ein Globalisierungshotspot – weil hier am intensivsten Kapital, Arbeit, Informationen und Güter bewegt werden.

Die Daten, die den DHL Global Connectedness Index füttern, unterstützen nachdrücklich zwei Globalisierungsgesetze. Zum einen das „Gesetz der Semiglobalisierung“: Internationale Interaktionen sind zwar nicht vernachlässigbar, aber deutlich weniger intensiv als inländische Interaktionen. Zum anderen das „Gesetz der Distanz“: Internationale Interaktionen werden durch die Distanz zu kulturellen, administrativen und geographischen Dimensionen gedämpft und sind oft auch von ökonomischer Distanz betroffen. Das erste Gesetz entspricht der „Tiefe“ der Globalisierung und das zweite Gesetz seiner „Breite“.

Zusammengenommen, zeichnen sie das Bild einer komplexen Welt, in der die Größe und die Verteilung der internationalen Waren- und anderer Handelsströme sehr unterschiedlich sind – und in der es weit mehr Möglichkeiten für Länder und Unternehmen gibt, Werte über nationale Grenzen hinweg zu schaffen als in einer Welt, die sich abschottet. „In einer solchen Welt behalten die Entscheidungsträger einen erheblichen Einfluss darauf, ob die Globalisierung Fortschritte macht oder umgekehrt“, stellen die Autoren fest. Dabei gehe es allein um die Macht der Fakten, nicht um die der Gefühle und Stimmungen, die nicht zuletzt auch die Brexit-Debatte in Großbritannien befeuert hätten.

Überschätzte Globalisierung

Von Carsten Knop

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