Sexismus am Arbeitsplatz: Vermintes Gelände

Die #MeToo-Debatte hat viel Unsicherheit in die Büros gebracht: Was ist harmlose Freundlichkeit, was ein frecher Flirt? Und wann ist eine Grenze überschritten?

Es hat sich viel verbessert, aber wir sind weit davon entfernt, ein entspanntes Verhältnis zwischen Männern und Frauen am Arbeitsplatz zu haben. Das sagt Stefanie Stahl. Die Diplompsychologin aus Trier beobachtet eine wachsende Verunsicherung. Dabei meint sie nicht die eindeutigen Fälle sexueller Attacken eines Harvey Weinstein. „Da geht es um Machtgefälle und Dominanzstreben von Leuten, die es sehr weit oben an die Spitze gebracht, dabei aber völlig den Kontakt zur Realität verloren haben. Sie wähnen sich gottähnlich, haben kein Unrechtsbewusstsein, dafür aber narzisstische Strukturen“, sagt Stahl. Schwieriger zu beurteilen seien die Grenzfälle. Bei diesem Thema sind Klischees sicher programmiert: Ein Mann gilt tendenziell als toller Hecht, wenn er beim anderen Geschlecht prächtig ankommt und begehrliche Blicke auf sich zieht, während eine Frau im umgekehrten Fall schnell als Schlampe dasteht.

An der Materialfrage schwächelt die Diskussion nur punktuell: Jede zweite Frau wurde schon einmal sexuell belästigt, da ist die Statistik recht klar. Wie oft das Männern widerfahren ist, darüber gibt es dagegen – bisher – keine Untersuchungen. Aber einen beinahe ebenso prominenten Fall, wie den des Harvey Weinstein: Der Schauspieler Kevin Spacey wird unter anderem der versuchten Vergewaltigung eines seiner männlichen Schauspielschüler beschuldigt. Und der Schauspieler Anthony Rapp wirft Spacey vor, in der Vergangenheit übergriffig geworden zu sein. Auch Männer können also durchaus Opfer werden, selbst wenn die Mehrheit der Vorfälle Frauen betreffen mag.

Sachlichkeit tut der Debatte in jedem Fall gut. Aber wie soll das gehen, wenn sich einerseits eine 180-Prozent-Feministin und aggressive Binnen-I-Verteidigern schon darüber aufregt, wenn das Wort „Altweibersommer“ in einem Text auftaucht? Wie soll das andererseits möglich sein, wenn ein junger Agenturleiter es völlig in Ordnung findet, über „die neue rattenscharfe Kollegin“ und deren Qualitäten herzuziehen, die weder oberhalb der Schultern angesiedelt seien noch etwas mit inneren Werten zu tun hätten? Es sind keineswegs nur die ergrauten Kerle, die noch in der Steinzeit studiert zu haben scheinen, die bei der hübschen Assistentin „touchy“ werden. Sensibel werden Menschen für schräge Töne oft erst, wenn sie selbst oder ihre Kinder Opfer solcher Konfrontationen werden. Dann ist es nicht mehr in Ordnung, anzügliche Die-hat-wohl-ihre-Tage-Zicken-Zoten zu reißen, sondern dann wird das als gezielte Demütigung erlebt und geahndet. Bei Betroffenheit verschieben sich die Toleranzgrenzen; was vormals als Altherrenwitz abgetan wurde, bekommt jetzt die rote Karte.

Wo hört kollegiale Freundlichkeit auf, wo fängt unkollegiale Belästigung an? Wo verläuft die Grenze zwischen Flirt und unerwünschter Anmache? Wer soll sich da noch auskennen? Das aber fordert die Psychologin Stahl ein: „Wenn man sich als Mann öffnet, dann sieht man doch, ob man eine empfindsame, zarte Seele vor sich hat, die man vorsichtig, mit respektvoller Distanz behandeln muss, oder einen robusten Kumpeltyp, bei dem es derber zugehen kann.“

Die Therapeutin fordert, gezielt zu üben, Empathie zu stärken, und rät, sich kritisch zu fragen: Soll meine eigene Tochter, Frau oder Mutter so behandelt werden? Männer sollten sich Gefühle der Schwäche erlauben. „Sie können zwei Gefühle gut: Freude und Aggression.“ Schwieriger dagegen seien Angst, Hilflosigkeit, Trauer. Ausdrücklich stellt Stahl klar: „Wir sprechen über die feineren Bereiche. Was eine Vergewaltigung ist, das weiß der Täter. Da gibt es nichts zu diskutieren.“

Die Grenzen sexueller Annäherung sind hingegen fließend und werden von jedem anders definiert. Auch das gilt übrigens für beide Geschlechter gleichermaßen. „Das ist für mich eine Typfrage“, sagt ein Stuttgarter Vertriebsleiter, den wir hier Burkard Beer nennen. Der 54-Jährige steht viel im Kundenkontakt und sieht sowohl Männer als auch Frauen, die einem heftigen Flirt oder mehr zugeneigt sind – „wenn das Scheunentor offen ist, dann wird da durchgegangen“.

In seinen Anfangsjahren bei einem Münchener Medienhaus verbrachte Beer seine Mittagspause Stulle essend auf der Parkbank. Eines Tages fragte ihn eine eher zurückhaltende Kollegin, ob sie ihn begleiten dürfe. Statt einträchtig kauend nebeneinander auf der Bank zu sitzen, wurde die Frau unvermittelt übergriffig und langte ihm zwischen die Beine. „Ich bin mehr für den Blümchenanfang“, scherzt er drei Jahrzehnte später darüber. In der Situation selbst war ihm aber alles andere als zum Lachen zumute. Auch von angetrunkenen Kolleginnen und ihren Aktivitäten nach Weihnachtsfeiern weiß er zu berichten, will aber nicht falsch verstanden werden. „Mir geht es um Versachlichung und darum, die persönlichen Grenzen zu wahren. Es geht einfach nicht, andere in Situationen zu bringen, in die sie nicht gebracht werden wollen. Ich wünsche mir eine klare Ansage. Das gibt mir im Umgang Sicherheit.“

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Klartext reden helfe. Denn die Sache mit der Gleichberechtigung findet der Vater von zwei Söhnen durchaus kompliziert. „Einerseits heißt es Ladies First und Frauen sollen eine Sonderrolle spielen, andererseits habe ich eine Abteilungsleiterin erlebt, die vor Kunden sagte: ,Meine Jungs sind jetzt so weit‘. Stellen Sie sich mal vor, das hätte ein Mann über seine Mitarbeiterinnen gesagt, da wäre das Geschrei groß gewesen.“

Klartext zu reden hört sich leichter an, als es ist. Das Problem ist das Machtgefälle. In Vorstandsetagen managen Frauen nach wie vor in der Regel das Büro, nicht aber die großen Transaktionen. Eine Bremer Linguistin berichtet über ihre zweite Arbeitsstelle als Trainee in einem Industriebetrieb. Die ersten Monate verliefen fast zu schön, um wahr zu sein. Der Abteilungsleiter tat das, was man Lichtjahre vor der Weinstein-Debatte noch als betulich, aber arglos beschrieben hätte, als „er nahm sie unter seine Fittiche“. Die Frau, die namentlich nicht genannt werden möchte, erinnert sich: „Der Kollege war ein ausgesucht höflicher Mensch, 15 Jahre älter, katholischer Familienvater, was er gerne betonte. Mir machte er oft Komplimente, ausschließlich die Arbeit betreffend.“

Das drehte sich, als seine Frau ernsthaft erkrankte und er sich darüber ausweinte. „Mir wurden die Gespräche unangenehmer, er verglich mich mit ihr“, erzählt sie. „Das bekam eine schlüpfrige Wendung bis hin zu emotionalen Geständnissen, die ich nicht hören wollte.“ Der Fall scheint typisch, denn der Mann fiel nicht mit der Tür ins Haus, sondern intervenierte subtil. Typisch auch das Ende. Als die Frau sich zurückzog, private Themen abblockte, bockte ihr Chef und verarbeitete seine gekränkte Eitelkeit mit unsachlicher, vorgeschobener Kritik. „Er warf mir Fehler bei der Arbeit vor und sagte, dass er sich in meinem Potential getäuscht hätte. Die Atmosphäre wurde unerträglich. Ich bin gegangen.“

Heute warnt sie Kolleginnen: Es sei fast unmöglich, einen Zusammenhang nachzuweisen zwischen zurückgewiesener Eitelkeit, daraus resultierender Rache und zerstörten Aufstiegschancen. Ganz abgesehen davon, habe ihr als Berufseinsteigerin der Mut gefehlt, sich an den Betriebsrat zu wenden. „Ich habe mich für meine Naivität geschämt. Heute würde ich mir das alles rigoroser verbitten.“ Und zum Chef marschieren.

Dieser sollte rasch reagieren, bekräftigt Peter Modler, der Seminare zu einem sogenannten Arroganz-Training für Frauen gibt, in seinem Buch „Die Manipulationsfalle“. Im Kapitel „das hormonelle Büro“ schreibt der Unternehmensberater: „Chefs und Chefinnen müssen ein tiefes Interesse daran haben, solche Akte zu ahnden und aus ihrem Betrieb zu verbannen. Sie haben eine Fürsorgepflicht, nicht nur um der Betroffenen willen, auch deshalb, weil die stillschweigende Duldung solchen Verhaltens – einmal abgesehen vom möglicherweise strafrechtlichen Aspekt – sich zu Lasten von Frauen wie ein Krebsgeschwür innerhalb einer Organisation ausbreiten kann und tiefe Demotivation bewirkt: Deine Leistung ist egal, wenn du mit dem ins Bett gehst . . . So eine Entwicklung ist eine katastrophale Personalführung.“

Das spiegelt auch die Rechtslage wider. Nicht umsonst verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ganz explizit sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – und setzt dabei wesentlich strengere Maßstäbe an als das Strafrecht. Für einen Gesetzesverstoß muss es nicht einmal direkt zu sexuellen Handlungen kommen, es reichen auch anzügliche Bemerkungen, Hinterherpfeifen oder der Wink mit dem Zaunpfahl: Porno-Poster oder erotische Kalender an der Wand zum Beispiel.

Auf der Straße dürfen Männer den Frauen ungestraft auf die Brüste starren, am Arbeitsplatz jedoch nicht. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Dort kann man einem aufdringlichen Typen nicht einfach aus dem Weg gehen, im Zweifel sieht man sich in der Kaffeeküche wieder. Und stets besteht die Gefahr des Machtmissbrauchs. Die strengen Regeln treffen übrigens nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch den Arbeitgeber: Er ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Belästigungen gar nicht erst entstehen. Dazu gehört eine sorgfältige Auswahl der Vorgesetzten und ein beherztes Einschreiten, wenn die Zoten überhandnehmen.

Das ist keineswegs nur als warnender Appell gemeint, denn die Sanktionsmöglichkeiten des AGG sind durchaus harsch: Das beginnt schon mit der Verpflichtung, eine Beschwerdestelle einzurichten. An die können sich betroffene Mitarbeiter wenden, wenn ihnen ein Kollege zu nah auf die Pelle rückt. Lässt der Arbeitgeber die Vorwürfe abprallen, hätte die betroffene Arbeitnehmerin sogar das Recht, den Griffel fallen zu lassen und die Leistung bis auf weiteres zu verweigern. Und schließlich muss der untätige Arbeitgeber auch noch Schadenersatz zahlen, wenn der Frau durch die Erlebnisse Arzt- oder Therapiekosten entstanden sind. Sogar Schmerzensgeld könnte es geben. Allerdings muss sich die Frau schnell melden: Nach nur zwei Monaten verjähren die Ansprüche und wie immer gilt: Das Ganze ist für männliche Opfer analog. Belästigungen sind allerdings oft schwer zu beweisen – auch das ist für beide Geschlechter der Fall.

Können Frauen trainieren, sich selbst zur Wehr zu setzen? „Das können sie, indem sie möglichst früh stopp sagen, zum Beispiel mit folgender Formulierung: Oh, das wird mir jetzt aber flirty. Ich gehöre zu denen, die Arbeit und Privatleben trennen“, rät Stefanie Stahl. Ein humorvoller Unterton helfe bei hierarchischem Gefälle, „so kann der andere noch sein Gesicht wahren“. Nützt das nichts, hilft nur noch energische Klarheit: „Lassen Sie das. Ich möchte das nicht.“

Die Linguistin aus Bremen meidet derlei Konfrontation und lässt nach der Episode mit ihrem früheren Chef Privates während der Arbeit nicht mehr zu. Verständlich, aber das macht das Berufsleben natürlich ärmer. Mit ihrem Image als Spaßbremse könne sie jedoch leben, sagt sie. Der Stuttgarter Vertriebsfachmann bedauert diese Haltung. „So geht viel Spielerisches verloren. Grundsätzlich ist menschliches Miteinander erwünscht. Aber wenn das missbraucht wird, hilft nur noch ein klarer Widerspruch.“ Er hat schon mehrfach Kollegen beiseitegenommen und ihnen untersagt, „sexistische Sprüche rauszuhauen“. Das zeige Wirkung. Burkhard Beer bleibt Optimist und findet, „respektvoller Umgang miteinander, das ist doch ein guter Vorsatz fürs neue Jahr“. Optimistisch blickt auch Stefanie Stahl nach vorn: „Mein Bauchgefühl sagt mir: Die neue Männergeneration ist emanzipierter und verständnisvoller.“

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