Talent hat viel mit Trauma zu tun
Sie haben keinen Blick dafür, wo sie Außerordentliches leisten und den roten Faden finden. Antworten liegen in der Kindheit, sagt der Talent-Coach.
Im Gespräch: Klaus Siefert, Management-Trainer
Herr Siefert, in der Arbeitswelt von heute müssen wir uns immer häufiger beruflich neu orientieren, aus einer Vielzahl von Möglichkeiten die richtige wählen. Wie gelingt das?
Lassen Sie mich ein Beispiel schildern, wie es gehen kann. Als Siebenjähriger muss ein Junge miterleben, wie sein Vater das Familienunternehmen schließen muss. Wie all die wertvolle Substanz, die in vielen Generationen aufgebaut wurde, verlorengeht. Er fühlt das Leid seines Vaters, wie dieser innerlich daran zerbricht. Heute als Erwachsener sucht er sich, unbewusst, immer wieder Unternehmen mit einer guten Substanz und führt sie als Geschäftsführer in eine gute Zukunft. In unserer schmerzlichsten Erfahrung finden wir die Orientierung, unsere wahre Leidenschaft. Das Prinzip dahinter: Das, was uns als junger Mensch am meisten trifft, wird zum inneren Antrieb, der unserem Leben Orientierung und Sinn gibt.
Wie findet derjenige denn sein wahres Talent heraus?
Er sollte ebenfalls genau dort hinschauen, wo er als Kind die schmerzlichste Entwicklung genommen hat. Das ist ein wichtiger Ansatz. Ich habe festgestellt, wir kommen alle mit einem Kerntalent auf die Welt. Wir sind darin aber auch empfindlich, verletzlich oder besonders sensibel. Die Frage ist jetzt: Wird das von den Eltern angenommen, übersehen oder gar abgelehnt?
Mit Verlaub, das ist eine steile These und zugespitzt formuliert.
Es klingt irritierend, aber unsere Verletzungen führen uns oft zur beruflichen Erfüllung. Ich illustriere das an einem weiteren Beispiel. Einer meiner Kunden ist Jurist. Er hatte einen strengen, streitbaren, ja rechthaberischen Vater, erlebte sich dort als konfliktschwach und unterlegen, getrieben von der Sehnsucht, für Ausgleich zu sorgen. Als Kind hatte er keine Chance, mit seinem Talent in Konflikt mit seinem Vater zu bestehen. Er erlebte, wie seine Ideen für Win-win-Lösungen wirkungslos blieben. So verlor er das Vertrauen und das Gespür für sein Kerntalent. Wenn er heute erfolgreich Konflikte für seine Mandanten löst, sind seine Erfolge wie blinde Flecken. Sein Gefühl von Unzulänglichkeit aus seiner kindlichen Erfahrung heraus verstellt den Blick darauf. Sein Hauptthema im Leben besteht darin, Konflikte zu lösen, wo er Ungerechtigkeit sieht. Seine größte Verletzung: Er konnte bei seinem ungerechten Vater nichts bewegen.
Und als Jurist hilft er dann, Gerechtigkeit herzustellen?
Das gelingt ihm aber nur bedingt. In der Kanzlei ist er mit verschiedenen, auch dominanten Kollegen konfrontiert und hat dort wieder das Gefühl, seine Interessen nicht durchsetzen zu können. Er fühlt sich als Konfliktvermeider, weil er aufgrund der Erfahrung mit seinem Vater glaubt, er könne keine Konflikte lösen. Das belastet ihn so sehr, dass er überlegt, beruflich etwas anderes zu machen.
Soll er das Ihrer Meinung nach?
Nein, er ist am richtigen Ort und im Kern ein exzellenter Konfliktlöser. Wenn er den Ursprung begreift: Als Kind konnte er nichts gegen den Vater ausrichten, jetzt aber kann er Konflikte für Mandanten lösen. Und er kann lernen, sich für seine eigenen Interessen einzusetzen, die Mandanten anders aufzuteilen, spannendere Fälle zu bekommen, die Kanzleikosten fairer aufzuteilen, nicht immer den anderen den Vortritt zu lassen. Er trägt viele Lasten und sagt nicht, was ihm wichtig ist. Seitdem er Schritt für Schritt lernt, seine Interessen zu vertreten, und die anderen ihn hören, löst sich die Geschichte.
Der Beruf stimmte also, aber das verlorene Vertrauen in das eigene Kerntalent stand im Weg.
Das ist relativ typisch. Zu mir kommen oft Menschen, die frustriert sind und ihren Arbeitsplatz, am liebsten den Beruf wechseln möchten. Dabei geht es bei vier von fünf Kunden nur darum, das verlorene Vertrauen ins eigene Kerntalent zurückzugewinnen, nicht um eine komplette Neuausrichtung. So wie bei einer Hochschuldozentin. Sie hatte das Gefühl, außen vor zu sein, klein spielen zu müssen, immer die weniger anspruchsvollen Arbeiten zu bekommen, während die anderen mit ihren Resultaten glänzen.
Ist das der Klassiker schlechthin, dass tüchtige Frauen beruflich aufs Abstellgleis geraten?
Das betrifft viele Frauen, vor allem leistungsstarke. Sie erkennen nicht, was sie jeden Tag leisten, und sehen ihren Handlungsspielraum nicht. Für sie ist es wichtig, dass sie nachvollziehen können, dass ihre Leistungen ursächlich sind für das, was gelingt. Das begreifen gerade die Erfolgreichen nur schwer. Sie scheitern an ihren eigenen Vorstellungen und an ihrem Perfektionismus. Da läuft eine Veranstaltung sehr gut, nur hat ihr Referat etwas zu lange gedauert, oder eine Frage konnte nicht vollständig beantwortet werden. Sie erleben dass dann so: Nicht einmal das habe ich geschafft. Das ist eine selektive Wahrnehmung. Alle sind zufrieden, nur die Perfektionistin ist es nicht.
Wie weit ging diese Selbstkritik bei der Dozentin, die sich auf dem Abstellgleis wähnte?
Sie wollte die Hochschule verlassen und sich selbständig machen. Wir haben dann überlegt, was sie so verletzt. Dabei stellte sich heraus, dass sie in ihrer Familie mit zwei Brüdern als Außenseiterin behandelt worden ist. Die Familienkultur gab vor, dass Männer alles besser können sollen. So hatte sie mit ihrer Intelligenz den Neid auf sich gezogen und hatte keinen Platz in der Familie. Das hat diese Frau geprägt. Sie zeigt nicht, was sie kann, sie denkt, sie muss bescheiden sein. Mit dieser Prägung kommt sie an ihrem Arbeitsplatz nicht weiter. Sie gibt sich mit wenig zufrieden und erträgt ganz viel.
Und wie verließ Sie diese Sackgasse?
Es stellte sich heraus, dass sie die Gabe hat, Menschen einen richtigen Platz im System zu geben. Ganz konkret hat sie einen chaotisch organisierten Kongress zum Erfolg werden lassen. Sie sollte nur administrative Aufgaben erledigen, hat dann aber die Führung übernommen, die Beteiligten richtig eingesetzt und so die Veranstaltung gerettet. An diesem Beispiel hat sie gelernt, ein Gefühl für ihr Talent zu bekommen und sich damit zu zeigen. Das ist ihren Vorgesetzten aufgefallen. Sie hat sich nach und nach ihren idealen Arbeitsplatz geschaffen.
Das haben Sie selbst auch getan. Wie ging das bei Ihnen?
Meine schmerzlichste Erfahrung als Kind war meine Legasthenie, weil ich glaubte, dass mir damit nur ein Hilfsjob bleibt. Deshalb wollte ich zeigen, was ich kann, wurde Bankkaufmann, studierte BWL und übernahm als Interims-Geschäftsführer Verantwortung. Seit 17 Jahren ergründe ich das Talent. In Deutschland und in der Schweiz begleite ich Menschen, wie sie ihr Talent im Beruf leben können. Das macht mich glücklich.
Immer mehr junge Menschen machen Abitur und sind dann planlos. Woher rührt diese Ratlosigkeit?
In der Schule fährt man auf einer sehr engen Spur. Hat man Glück, liegen Talente auf dieser Spur. Wenn nicht, dann fällt Orientierung schwer. Wir reproduzieren in der Schule viel Wissen, haben aber weniger Möglichkeiten, uns zu erfahren.
Das heißt, unser Talent ist oft ein blinder Fleck?
Ja, die Begabung wird nicht sichtbar, wenn gerade diese Fähigkeiten in der Schule nicht gefragt sind.
Was raten Sie all den jungen Menschen, die sich keinen Coach leisten können?
Um herauszufinden, wo es mich hinzieht, helfen Tests, um zu reflektieren. Zum Beispiel im Buch „Entdecken Sie Ihre Stärken jetzt: Das Gallup-Prinzip für individuelle Entwicklung und erfolgreiche Führung“ von Buckingham, Clifton und Matyssek. Vorgestellt werden 37 standardisierte Grundtalente. Man erstellt eine Rangliste mit seinen Haupttalenten und bekommt schon mal eine Ahnung.
Wer hilft noch weiter?
Die wertvollste Quelle besteht darin, unterschiedliche Leute, auch die Eltern, anzusprechen, denen man vertraut und die man befragt: Was glaubst du, was ich am besten kann? Wenn du mich für eine Arbeit einsetzt, welchen Posten würdest du mir geben? Und dann gucken, was ist der gemeinsame Nenner, um nicht überzubewerten, was ein Einzelner sagt, aber aufhorchen, wenn in fünf, sechs Gesprächen eine Qualität aufblitzt.
Manipulieren Eltern nicht gern, hoffen auf Übernahme der Praxis und Familientradition?
Dazu neigen viele Eltern. Es ist entscheidend, kritisch zu hinterfragen, ob sie einen irgendwo sehen wollen. Um sich selbst auf die Spur zu kommen, hilft eine andere Richtung: Wenn man die Welt etwas besser machen könnte, wofür würde man sich einsetzen? Wenn man sich für ein Thema zuständig erklären könnte, welches wäre das?
Und wenn es doch auf die beiden Fächer Jura oder Wirtschaft hinausläuft?
Damit kann man nicht so viel falsch machen. Das ist zumindest eine gute Grundlage bei der unglaublichen Vielfalt beruflicher Möglichkeiten. Auf der Basis kann ich herausfinden, in welchem Bereich ich es zur Meisterschaft bringen kann, was ich so begeistert mache, dass ich auch Hürden überwinden kann.
Was halten Sie von Praktika?
Die halte ich für eine gute Sache, um spielerisch herauszufinden, wo ich hingehöre. Oft hat man geschönte Vorstellungen davon, wie der Berufsalltag aussieht. So wie diejenigen, die etwas mit Medien machen möchten und an äußeren Bildern kleben. Das zum Thema Luftschlösser. Ich halte viel davon, sich ein Jahr Zeit zu nehmen, um ganz unterschiedliche Praktika zu machen. Wir haben mit einer großen Vielfalt zu tun, erleben immer schnellere Veränderung und brauchen Orientierung aus uns selbst heraus. So lernen wir uns besser kennen und kommen besser mit uns und der Zukunft zurecht.
Das Gespräch führte Ursula Kals.
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