Diagnose Burn-Out: Chancen und Risiken
Erfolgszwang, Überlastungsstress, ständige Erreichbarkeit: für immer mehr Berufstätige die Hauptauslöser für ein Burn-out-Syndrom. Insbesondere Manager, Führungskräfte und Selbständige sind zunehmend von diesem überlastungsbedingten Erschöpfungszustand betroffen.
von Mathias Berger
Jahrzehntelang haben Ärzte und Psychologen gemeinsam mit den Verbänden der Patienten und Angehörigen gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung psychischer Erkrankungen gekämpft. Das Stigma wird von Fachleuten häufig als die „zweite Erkrankung“ bezeichnet. Das bedeutet, dass die Betroffenen nicht nur unter einer psychischen Erkrankung leiden, sondern zusätzlich unter der Überzeugung, dass es die eigene Schwäche war, die die „minderwertige“ Erkrankung erst möglich gemacht hat, und dies auch so von der Umwelt gesehen wird.
Scham und fehlende Behandlungsbereitschaft der Erkrankten, aber auch Ressentiments gegen Betroffene und ihre Familien, sind die beklagten Folgen. All dies scheint durch die gegenwärtige Burn-out-Welle wie weggefegt. Viele Prominente bekennen sich öffentlich zu ihrem psychischen Leiden, was zu einem enormen Medienecho geführt hat. Aktuelle epidemiologische Studien zeigen, dass etwa 30 Prozent der Bevölkerung im Laufe eines Jahres – zumindest vorübergehend – eine behandlungsbedürftige psychische Krise durchlaufen.
Dennoch stellen sich bei vielen „Anti-Stigma-Aktivisten“ nicht wirklich Genugtuung und Erleichterung ein. Sie befürchten, dass der „Burn-out-Tsunami“ nicht zu einem adäquaten Umgang mit dem Phänomen psychischer Erkrankungen führt.
Burn-out nicht mit Depression gleichzustellen
Zweifelsfrei ist der Burn-out-Begriff ein Türöffner, angstfreier über eigene psychische Probleme zu sprechen. Allerdings löst er auch unsachliche, missverständliche oder sogar schädliche Sichtweisen aus – diagnostizieren doch hiesige Ärzte immer häufiger insbesondere bei Patienten mit höherem sozioökonomischen Status anstatt einer Depression ein „Burn-out“. Und dies, obwohl es sich nach der geltenden Internationalen Klassifikation Psychischer Erkrankungen der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) bei Burn-out nicht um eine Erkrankung handelt.
Burn-out gilt weltweit – außerhalb Deutschlands – als ein unspezifischer Erschöpfungszustand aufgrund von Arbeitsüberlastung, ohne dass die Kriterien beispielsweise einer Depression erfüllt sind. Hierzulande wird jedoch Burn-out zumeist mit einer Depression gleichgestellt, was mit der Gefahr einer neuen, unsachlichen Stigmatisierung einhergeht: Burn-out, eine Erkrankung der Tüchtigen und Engagierten – Depression, ein Phänomen der Schwächlinge und Unengagierten.
Deutschland ohne verbindliche Regelungen
Die unsachgemäße Heraufstufung von Burnout zu einer Krankheit würde zudem als Konsequenz mit sich bringen, dass das bereits jetzt bei psychischen Erkrankungen gänzlich überforderte Gesundheitssystem nun auch noch das Burn-out Millionen überlasteter Berufstätiger stemmen müsste. Wenn jedoch hierzulande, wie in unseren Nachbarländern, Burn-out als ein überlastungsbedingter Erschöpfungszustand gesehen würde, dann wäre es die Aufgabe jedes Einzelnen, aber vor allem der Sozialpartner, das Burn-out-Problem zu lösen.
Konsequenterweise wurden genau deshalb in nahezu allen EU-Staaten gesetzlich verbindliche Regelungen eingeführt. Diese besagen, dass eine Klage über psychosoziale Überlastung am Arbeitsplatz genauso wie Beschwerden über Lärm oder Toxine eine Gesundheitsgefährdungsüberprüfung durch den Arbeitsschutz nach sich ziehen müsse. Die hiesige irrtümliche Erwartung, dass es einzig die Aufgabe des Gesundheitssystems sei, Burn-out-Beschwerden zu beheben, dürfte entscheidend durch das Fehlen solcher verpflichtenden Gesetzesregelungen bedingt sein.
Belastungen am Arbeitsplatz zurückfahren
Burn-out droht als unsinniger Sammelbegriff für alle psychischen Erkrankungen benutzt zu werden, die in einem Zusammenhang mit Problemen am Arbeitsplatz auftreten. Insbesondere deshalb ist es sinnvoll, Symptome wie Erschöpfung, Lustlosigkeit oder Schlafstörungen, die noch nicht (!) Krankheitsschwere erreicht haben und durch eine chronische Arbeitsüberlastung bedingt sind, als Burn-out zu bezeichnen.
Burn-out beschreibt einen Risikozustand zu erkranken, wobei es sich zumeist um Bluthochdruck, Depressionen oder Angststörungen handelt. Bisher vorliegende wissenschaftliche Untersuchungen zeigen eindrucksvoll: Um Folgeerkrankungen dieser Art zu vermeiden, sollten Betroffene nicht nur Einstellung und Verhalten ändern, sondern vor allem sollten überfordernde Arbeitsbelastungen korrigiert werden. Eine entscheidende Aufgabe bei der Burn-out-Prävention und Bewältigung kommt dem betrieblichen Gesundheitsmanagement, Arbeitsschutz und den Betriebsärzten zu. Erst wenn Arbeitsstress zu manifesten Erkrankungen geführt hat, sind Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten gefordert. Ihre Aufgabe liegt dann nicht nur in der Therapie der Erkrankung, sondern auch darin, Veränderungsprozesse am Arbeitsplatz einzuleiten. Nur so lassen sich rasche Rückfälle durch erneute Arbeitsüberforderung verhindern.
Trügerische Selbstdiagnosen
Immer mehr scheinbar an einem beruflichen Burn-out leidende Patienten suchen ärztlichen Rat. Oftmals stellt sich jedoch heraus, dass eine gewichtige Erkrankung vorliegt, die ihre Arbeitsfähigkeit einschränkt. Dieses als „Pseudo-Burn-out“ zu bezeichnende Phänomen kann bei Infektionskrankheiten, Tumorerkrankungen, Vitaminmangel, Schilddrüsenstörungen und vielen anderen körperlichen und psychischen Erkrankungen auftreten. Nicht selten werden Arztbesuch und die Einleitung einer gezielten Therapie durch eine falsche Bur-nout-Selbstdiagnose erheblich verzögert.
Vorläufer von Burn-out
Burn-out ist kein gänzlich neues Phänomen der vergangenen Jahre. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen sich durch die Industrialisierung und die damit einhergehenden einschneidenden Veränderungen der Lebensbedingungen massive Neubelastungen der Menschen. Der amerikanische Arzt George Miller beschrieb als Erster einen Zustand, den er als Neurasthenie bezeichnete und der in seiner unspezifischen Charakteristik am ehesten dem jetzigen Burn-out entsprach. Als Ursache gab er unter anderem die Dampfkraft, regelmäßig erscheinende Zeitungen, Telegraphen und die Wissenschaften an.
Den Entstehungsmechanismus sah Beard in verbrauchten Kraftreserven, die sich wie Batterien erschöpften. Er empfahl als Therapie Erholung, Gespräche, Medikamente wie beispielsweise Cola, die damals noch Kokain enthielt, sowie Elektrotherapie zur Auffüllung der Energiereserven. Neben der fortschreitenden Adaptation an die neuen Lebensbedingungen dürften die Sozialgesetzgebungen – als Folge tiefgreifender gesellschaftlich erstrittener Umstrukturierungen – der entscheidende Faktor gewesen sein, um Neurasthenie einzudämmen.
Zu konstatieren ist: Die Burn-out-Welle sollte die Gesellschaft dazu veranlassen, sich möglichst rasch mit den wachsenden Anforderungen einer sich dramatisch entwickelnden globalisierten und computerisierten Arbeitswelt auseinanderzusetzen. Es besteht Hoffnung, dass diesmal dazu keine dramatischen Arbeits- und Klassenkämpfe und vor allem kein Hirndoping mit Kokain und verwandten Drogen zur Leistungssteigerung notwendig sind.
Professor Dr. med. Mathias Berger, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg